„Die gesellschaftlichen Anforderungen Realität werden lassen“
Christoph Schubert, Geschäftsführer und Gründer von aiutanda, spricht im Interview über die Herausforderungen der Pflegebranche, die Entwicklungen im Markt und die Vision für sein eigenes Unternehmen. |
Wie hat sich Pflege in den letzten Jahren gewandelt? Sind gesellschaftliche Trends absehbar?
Es gibt einige gesellschaftliche Trends, die sich in den letzten Jahren herauskristallisiert haben, und auf welche der Pflegemarkt erst langsam beginnt zu reagieren. Ich sehe fünf dieser Trends: Erstens die Individualisierung. Die Menschen fordern mehr und mehr persönliche, individuelle Leistungen anstelle von Pauschalangeboten. Das gilt für das Reisen ebenso wie für die Pflege. Zweitens die „Verambulantisierung“. Wenn man vor zehn, zwanzig Jahren eine Knie-OP hatte, war es normal, dass auf einen stationären Krankenhausaufenthalt eine mehrwöchige stationäre Reha folgte. Inzwischen sehen wir eine Verschiebung hin zu ambulanten Lösungen, was politisch so gewollt und in sehr vielen Fällen auch möglich und sinnvoll ist. Sogar künstliche Beatmung oder parenterale Ernährung können heutzutage in den eigenen vier Wänden erfolgen. Der dritte Trend: Multimorbidität. Das heißt, Menschen sehen sich im Alter oft mehreren Leiden gleichzeitig ausgesetzt, was Hilfsbedürftigkeit immer komplexer werden lässt und eine entsprechend komplexe Pflege erfordert. Als vierten Trend sehe ich, dass Hilfsbedürftigkeit gesellschaftsfähig wird. Glücklicherweise schämen sich Menschen nicht mehr dafür und werden zunehmend in der Mitte der Gesellschaft aufgenommen. Fünftens schließlich beobachte ich, dass das Gesundheitsdelta in Partnerschaften zunimmt: Während ein Partner noch sehr gesund und mobil ist, ist der andere stark pflegebedürftig. Es ist die große Aufgabe der Gesundheitsbranche, diese Realitäten durch entsprechende Leistungen abzubilden.
Was macht aiutanda in dieser Hinsicht richtig?
Wir können sämtliche Anforderungen erfüllen, die mit Hilfsbedürftigkeit zusammenhängen. Das umfasst nicht nur Pflegeleistungen, sondern auch Hilfsmittel, Wohnformen, Beratung und Organisation. Das alles können wir höchst individuell und flexibel auf die jeweiligen Menschen zuschneiden – gemäß unserem Credo: egal wann, wo, wie, womit und durch wen.
Gibt es außer den gesellschaftlichen Trends weitere Herausforderungen, denen sich Unternehmen im Pflegemarkt stellen müssen?
Ja, zuallererst die Digitalisierung: Über das Smartphone benachrichtigt werden, dass sich meine Pflegekraft zehn Minuten verspätet, weil sie gerade im Stau steckt? Eine digitale Abrechnung erhalten? Hilfsmittel mit einem e-Rezept bekommen? Das sind in der Pflegebranche leider noch absolute Ausnahmen. Eine zweite Herausforderung betrifft die Kostenträger. Seit 1. September hat der Gesetzgeber vorgegeben, dass die Löhne und Gehälter für alle Pflegekräfte deutlich zu erhöhen sind. Das ist richtig und eine Wertschätzung des Berufs, bedeutet aber entsprechende Mehrkosten für die Kostenträger. Es bleibt abzuwarten, ob und wie diese am Ende auf die Versicherten umgelegt werden.
aiutanda hat soeben die Kunze-Gruppe erworben. Erfolgt zurzeit eine Konsolidierung des Pflegemarktes?
Das kann man tatsächlich so beobachten. Aktuell sehen wir noch einen sehr fragmentierten Pflegemarkt – es gibt sehr viele kleine Unternehmen, die oft mit Leidenschaft und aus Überzeugung Menschen helfen. Gleichzeitig kommt die Babyboomer-Generation in ein Alter, in dem sie daran denkt, ihr Lebenswerk in andere Hände zu geben. Das führt dazu, dass sich kleine Unternehmen nach Konsolidierungsmöglichkeiten umsehen, und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern auch inhaltlich. Sie suchen also Gleichgesinnte, um zusammen ihr Angebotsspektrum erweitern zu können.
aiutanda in zehn Jahren – was ist die Vision?
Obwohl wir ein wichtiger Akteur im Pflegemarkt sind, haben wir aktuell nur einen Anteil von ca. 0,2 Prozent im für uns relevanten Markt. Wenn unser Ziel innerhalb der nächsten zehn Jahre ist, fünf Prozent des Marktes zu bedienen und somit ca. fünf Prozent der hilfsbedürftigen Menschen zu unterstützen, würde dies einen Umsatz von rund fünf Milliarden Euro bedeuten. Für uns steht allerdings im Vordergrund, möglichst vielen Hilfsbedürftigen mit unserem Angebot zu helfen. Wir wollen den Markt in qualitativer Hinsicht gestalten und prägen, indem wir die gesellschaftlichen Anforderungen an die Pflege Realität werden lassen. Anders formuliert: Wir wollen nicht nur Markt-, sondern auch Qualitätsführer für Klienten, Angehörige und Mitarbeitende sein.